Happy End in Baden-Baden
Aisha steht im Eingangsbereich der Flüchtlingsunterkunft und spielt mit ihrem Smartphone. Das Display ist zerbrochen, aber alles andere funktioniert. Gottseidank. Es gab auch andere Zeiten, in denen der Akku über Tage hinweg leer war und ihre Familie schier verrückt wurde aus Sorge um sie. Damals auf der Flucht, die sie ganz alleine angetreten hatte.
Ich habe die freundliche junge Ärztin, die seit Februar in Baden-Baden lebt, Ende April durch Zufall kennengelernt und war gleich gefangen von ihrer positiven Art. Offen berichtete sie mir schon bei der ersten Begegnung, was sie zur Flucht veranlasste, und wie man überlebt in einem Land, in einer Stadt, in der man nie sicher war vor Gewehrschüssen, Panzern und explodierenen Bomben. "Wenn es für kurze Zeit aufhörte, kamen wir aus unseren Verstecken und freuten uns, dass wir noch lebten", hatte sie damals berichtet. Und das ist ihre Geschichte:
Verloren wirkt sie, wie sie so da steht, wie ein kleines Vögelchen, das man beschützen möchte. Dabei ist sie es doch, die wie die meisten Menschen, die vor Krieg oder Hunger ihre Heimat verließen, stark und mutig ist – und trotzdem so positiv. Ihr Lachen steckt an, ihr Wille, sich möglichst schnell in Deutschland zu integrieren, ist unbändig. Bei unserem Gespräch ist sie ein wenig müde und abgespannt, kein Wunder, kommt sie doch direkt aus dem anstrengenden, Intensiv-Sprachunterricht an der Volkshochschule.
„Mein
Deutsch ist viel besser als damals, als wir uns zum ersten Mal
trafen“, sagt sie stolz und lacht. Trotzdem wechseln wir lieber ins
Englische, das ihr vertrauter ist. Diese Sprache hat sie schon als
Kind in Syrien wortwörtlich als zweite Muttersprache aufgesogen, gab ihr Mutter doch als Privatlehrerin
zuhause Englischunterricht.
„Wenn
ich groß bin, will ich nach Europa“, war folgerichtig die große
Sehnsucht der kleinen Aisha, der noch dazu die Reiselust quasi in die
Wiege gelegt wurde: Während sie sich im September 1989 schon ankündigte, machte sich ihre Mutter – der Vater arbeitete damals
auf den Ölfeldern des Landes als Ingenieur - auf, um ihr Kind im Schoße der
Familie zur Welt zu bringen, immerhin in Homs, zwei Stunden von Aleppo entfernt.
Bis
vor zehn Jahren lebte die Familie in Aleppo, Mutter, Vater,
Aisha und ihr sechs Jahre jüngerer Bruder, gutbürgerlich,
zufrieden, ohne besondere Vorkommnisse. Dann zog die Familie in den
Osten des Landes, nach Deir Al Zour, zu den großen Ölvorkommen (=>
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und Aisha begann ihr Studium. Ärztin wollte sie werden, Internistin.
Immer noch lebten sie in einer heilen Welt, doch dann, ganz leise,
schlich sich der Krieg heran, den sie bis dahin nur aus dem Kino
kannten. „Krieg – das war nichts Reales für uns“, sagt Aisha
rückblickend.
Dann fielen erste Schüsse, starben die ersten Menschen. „Wir
dachten, es hört wieder auf“, erinnert sie sich noch, aber
tatsächlich wurde es schlimmer. Bomben explodierten, Gewehrschüsse
zerrissen die Stille in den Straßen, doch es war nicht der IS, der
näher rückte, sondern eine Auseinandersetzung der Freien Armee
gegen die Regierungstruppen. „Wir konnten noch miteinander reden“,
sagt Aisha, und wieder wuchs die trügerische Hoffnung, dass sich die
Situation bessern würde.
Das
Gegenteil trat ein.
2012
schließlich näherten sich die islamistischen Gruppierungen, der IS,
es wurde schlimmer und schlimmer. Die Bevölkerung war entsetzt und hilflos. „Wir verstanden das gar
nicht“. Zumal es kein flächendeckender Schrecken war, der sich
ausbreitete. „In jeder Stadt war die Situation anders.“ So auch
in Deir Al Zour.
Und immer versuchten die Einwohner noch, ein halbwegs normales Leben zu führen. Normal
– das bedeutete für Aisha der tägliche Gang in die Universität,
in die Vorlesungen. Zehn Tage vor dem Examen standen Panzer in
der Stadt, und sie lernte neben Anatomie und Blutgruppenbestimmung
auch, die einzelnen Waffengattungen zu unterscheiden. Das Examen
machte sie noch, dann fielen Bomben vom Himmel, die Bewohner
verkrochen sich in die hintersten Räume ihrer Wohnungen, hofften,
vor Bomben und Schüssen sicher zu sein.
„Es
hört wieder auf“, habe sie sich beruhigt, „morgen oder übermorgen, es
muss doch wieder aufhören!“ Strom und Wasser funktionierten bis auf kurze
Unterbrechungen und gaukelten Normalität vor. „Es war auch nicht so, dass
die Kämpfe 24 Stunden ununterbrochen andauerten, auch Soldaten
müssen mal schlafen und essen, und wir versuchten, in den Pausen
weiterzumachen und zu leben.“
Aber
es hörte nicht auf, und irgendwann blieb ihnen nichts anderes übrig
als zu fliehen und alles hinter sich zu lassen. Was das bedeutet,
blitzt nur kurz auf, während Aisha relativ gefasst weitererzählt:
„Alles zurücklassen bedeutet: Die Fotos deiner Kindheit, Zertifikate
des Vaters, und alle deine Lieblingskleider und Sachen, an denen du
hängst.“
Während
die Eltern erst nach Aleppo flohen und sich dann ins bis heute relativ friedliche
Homs retteten, musste Aisha nach ihrem Examen trotz der Krise
im Land versuchen, beruflich weiterzukommen. In Damaskus fand die
frisch gebackene Internistin eine Stelle in einer Klinik, dort war
der Krieg noch nicht angekommen, gleichwohl explodierten in einigen
Stadtteilen Bomben. Mit der Zeit kamen die Angriffe näher. Manchmal,
wenn sie sich nach ihrem anstrengenden Dienst im Krankenhaus auf dem
Heimweg befand und Bomben hochgingen, wusste die junge Frau nicht,
wohin: Zurück in die Klinik oder doch lieber nach Hause? Verwundete
versorgen oder endlich mal schlafen? Vor oder zurück?
Auch
wenn sie morgens das Haus verließ, um zur Klinik zu gehen, hörte
sie die Bomben und musste sich bei jedem Schritt tapfer vorsagen: „Ich bin Ärztin,
ich darf keine Angst haben! Ich muss und ich will den Menschen
helfen und Leben retten!“
Dann
trafen die Bomben ihre Klinik. Es war ein Tag, der so frisch in ihrem
Gedächtnis ist, als sei es gestern gewesen: Der Sauerstoff fiel aus,
die Patienten in der Notaufnahme und auf der Intensivstation
brauchten dringend Sauerstoff, sie brauchten Hilfe... „Wir rannten
hin und her, hatte Sauerstoffbehälter und pumpten mit den Händen,
solange wir konnten, um Menschenleben zu retten.“ Auch ein Angestellter der Klinik starb bei dem Angriff.
Eineinhalb
Jahre ging das so weiter mit dem Bürgerkrieg, mal mehr, mal weniger heftig. Nicht an jedem Tag, manchmal gab es nur einen Anschlag in der Woche, manchmal war eine ganze Woche Ruhe, dann gab es
wiederum Tag für Tag Kampfhandlungen. „Dann wieder ist die Rede
von Waffenstillstand, und du denkst, es ist vorbei.“ Zwar lebte und
arbeitete sie im relativ geschützten Regierungsbezirk, aber die
Rebellen schossen und bombten in ihren Stadtteil hinein, und natürlich
wurde auch zurückgeschossen. „Auf der anderen Seite waren doch auch
Familien und Kliniken...“ Ein Gedanken, der sie quälte.
Hinzu
kam persönlicher Stress, die Sorge um die Gesundheit ihrer Mutter
und um ihren jüngeren Bruder Jehad, der als erster die Konsequenz
auf der trostlosen Situation zog und sich – gerade mal 21jährig –
auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte. Irgendwann war auch ihre
Kraft restlos erschöpft. „Ich konnte nicht mehr“, sagt sie leise
und hebt die Schultern, so langsam, als läge die Last der Welt immer
noch auf ihnen.
Sie
nahm Urlaub, besuchte ihre Familie in Homs und beschloss, ebenfalls
zu fliehen. Es war ein folgerichtiger Schritt, denn nie hatte sie ihre alte Sehnsucht nach Europa
verloren.
Was fasziniert sie an Europa? Drei Dinge sind es vor allem.
Erstens:
Fairness. „In Syrien entscheiden außer deinen Noten viele
unkalkulierbare Faktoren, was aus dir wird. Das ist ungerecht.“
Zweitens: Respekt. „Hier in Deutschland kann ich denken und sein,
was ich will. Zuhause wurde alles be- und verurteilt, was immer man
tut“. Und drittens: Perspektive. „Ich will hart arbeiten, aber
dafür auch freie Zeit und angemessene Bezahlung bekommen.“ Mit
anderen Worten: „Was nützt es, ein guter Doktor zu sein, wenn ich statt Lohn nur Hunger habe?“
Eines Tages, endlich!, meldete sich ihr
kleiner Bruder. Seine Flucht war geglückt! Er war in Deutschland,
und in Baden-Baden gelandet.
In diesem Augenblick stand für Aisha fest, dass sie es wagen und ihm folgen wollte und musste. Jetzt
oder nie! Ende letzten Jahres sei es relativ einfach gewesen, nach
Deutschland zu gehen, allerdings es war teuer. 1600 Euro sollte die
Flucht umgerechnet kosten! Eine unermessliche Summe für die junge Ärztin, die
in Damaskus gerade mal 70 Euro im Monat verdient hatte. Dieses Foto entstand am letzten Tag des Jahres 2015, der gleichzeitig Aishas letzter Tag in Syrien war:
Ein
Cousin lieh ihr das Geld, und so packte sie ihren Rucksack und machte
sich auf den Weg, mutterseelen allein. Mit dem Auto in den Libanon, mit dem Flugzeug in
die Türkei, dann – der Schrecken aller Flüchtlinge: Mit dem Boot
nach Griechenland.
Auch
Aisha steht der Horror ins Gesicht geschrieben, wenn sie von der
Überfahrt erzählt. „Es war Januar, wir hatten tagelang auf etwas
besseres Wetter gewartet, dann ging es los, aber das Boot war
schlecht, der Motor zu schwach, und stetig stieg das Wasser im Boot.“
Fünf Stunden trieben sie auf dem Meer, und das Wasser stieg und
stieg. „Ich hatte keine Angst“, sagt die tapfere junge Frau und
lächelt etwas schief. „Ich kann ja schwimmen. Aber ich habe
ständig überlegt, wie ich meinen Rucksack halten soll, wenn das
Boot sinkt und wir schwimmen müssen. Der Rucksack durfte nicht nass
werden, da war alles drin, was ich war, alle Papiere, alle
Zertifikate, alles, weshalb ich nach Deutschland unterwegs war. Und er war so schwer. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, ihn hochzuhalten und zu schwimmen."
Das Wasser stand bereits bis zu den Knien, da kam das Rote Kreuz zur Rettung,
und weiter ging die Flucht über die berüchtigte Balkonroute. „Es
war kalt“, erinnert sich Aisha mit Schaudern, und in den
Zügen gab es keinen Sitzplatz, man kauerte auf dem Boden, war vier
Tage ohne Schlaf. In Kroatien kippte sie ohnmächtig um, aber weiter
ging es, immer weiter.
Dass
sie irgendwann tatsächlich Deutschland erreicht hatte, realisierte
sie zunächst gar nicht. „Ich las fremde Buchstaben, ein
klitzekleines bisschen Deutsch konnte ich schon, aber war das
wirklich Deutschland?“ Sie glaubte es erst, als ein Polizist ihre
Frage mit Ja beantwortete.
Und
dann erst ihr Zimmer! Ein Einzelzimmer! Der pure Luxus nach Wochen
ohne Privatsphäre, ohne funktionerende Türschlösser, ohne eigenes Essen. Endlich konnte sie auch wieder kochen und essen, was sie gewohnt war. Frittierte Eier zum Beispiel. Die hatte sie am meisten vermisst.
Also
Glück pur?
Nicht
ganz. Was nach der Ankunft in Baden-Baden folgte, waren zwei lange Monate der Ernüchterung, des
Herumsitzens, denn es gab einfach keinen Deutschkurs für sie. „Ich habe doch immer gearbeitet und jetzt hatte ich
nichts zu tun!“, erinnert sie sich kopfschüttelnd. Sie versuchte zwar, sich auf dem Zimmer selber Deutsch beizubringe, aber
die
Untätigkeit machte sie verrückt, schlug ihr aufs Gemüt.
Und
dann kam dieser eine Tag Ende April, an dem sie dachte, sie könne es
wirklich nicht länger aushalten... => KLICK
Und
siehe da – just zu dieser Zeit meldete sich eine ältere Dame, die
gerne ein oder zwei Flüchtlingen ein wenig beim Erlernen der
deutschen Sprache helfen wollte, nicht als Lehrerin, eher als gute
Freundin. In der Minute, in der die Meldung hereinkam, lief die bis
dahin auf ihrem Zimmer versteckte Aisha rein zufällig einer
Ehrenamtlichen in die Arme – und so konnte der Zufall ganze Arbeit
leisten. Denn seit diesem Tag ist Aisha fast rund um die Uhr
beschäftigt:
Mit
der älteren Dame, die nicht fotografiert und genannt werden möchte, trifft sie sich immer noch regelmäßig, erst diese
Woche picknickten die beiden zusammen in der Gönneranlage. Eine
weitere Ehrenamtliche wurde auf die junge Ärztin aufmerksam und nahm
sie energisch unter ihre Fittiche, ebnete ihr den Weg in einen
Intensiv-Deutschkurs bei der Volkshochschule, verschaffte Aisha eine
Hospitanz in einer Praxis, damit sie nebenher deutsches Fachvokabular
lernen kann, und sie zeigte Aisha die nächsten Schritte, die nötig
sind, um schon bald die deutsche Approbation zu bekommen. „Ein Jahr
brauche ich, dann kann ich wieder in meinem Beruf arbeiten“, hofft
die 27jährige. Bis dahin heißt es: Lernen, lernen, lernen.
Daneben
unterstützt Aisha eine Mitbewohnerin aus ihrer Unterkunft, die sich
noch nicht gut in Deutschland zurechtfindet. Und montags, an ihrem
einzigen unterrichtsfreien Tag, hilft sie seit neuestem im Tafelladen
aus. Ehrenamtlich.
Bleibt
da noch Freizeit? Hat sie Hobbys? Oh ja. Lesen. Im Augenblick
arbeitet sie sich durch einfach geschriebene Kinderbücher auf
Deutsch. Auch Schreiben ist ihr wichtig. Sie zeigt auf eine Kladde,
die auf ihrem Bett liegt. „Ich schreibe meine Lebensgeschichte auf.
Es wird ein ganzes Buch“, sagt sie und lacht ein bisschen. Wetten, dass es ein Buch mit Happy End wird?
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